Seit alters her projiziert der Mensch in den Vogel seine Sehnsucht, frei und ohne Zwang leben zu können. Wie sich der Vogel mit schnellem und leichtem Flügelschlag fortbewegt, so würde der Mensch gern Probleme überschauen, Schwierigkeiten fliegend überwinden und ersehnte Ziele flugs erreichen. Doch der Mensch ist natürlicherweise auf seine Beine und Füße angewiesen, die ihn erdgebunden nur schrittweise voranbringen. Verlässt er Wege und Pfade, kann die Fortbewegung zudem beschwerlich werden.

Der Vogel beeindruckt uns mit seinem Flugvermögen. Der federzarte Vogel darf höchstens wenige Kilogramm Gewicht haben, sonst kann er nicht abheben und fliegen.

Er kann sich, wie aus leichtem Stoff gewoben, aus dem Stand erheben. Geschwindigkeit ist ihm selbstver­ständlich. Bis zu fünfmal schneller als der höchstprämierte 100-Meter ­Läufer kann er sein Ziel erreichen. Und als Zugvogel überwindet er regelmäßig größte Entfernungen.

Zudem sind es Anmut und Schönheit der Vögel, die uns faszinieren. Mit ihrem Gesang umschmeicheln sie uns. Gibt es ein grandioseres Naturgeräusch voll Melodik und Harmonie als in unseren Breiten das morgendliche Frühlingskonzert unserer Singvögel, wenn auch die Zugvögel zurückgekehrt sind ?

Das Federkleid der Vögel, das sie unter allen Lebewesen auszeichnet, kann schlicht sein oder mit tropischer Farbenpracht das Auge be­stechen. Selbst die schmucklose Feder, von nahem betrachtet, prangt in ihrer Miniaturfarbigkeit wie ein Wunderwerk. Federgewand und Gestalt wirken duftig leicht. Sogar der mächtige Pelikan oder Albatros vermitteln noch die anmutige Luftigkeit des Windes.

Zwar meidet der Vogel nicht die menschliche Umgebung, ja, lebt sogar interessiert, wie es zuweilen scheint, nahe neben uns: Aber er scheut gleichwohl, soweit er ungezähmt ist, die Zuneigung des Men­schen, der ihn berühren und streicheln will, anders als Katze, Hund oder Pferd. Wird ein bestimmter Abstand unterschritten, entflieht er. Gerade diese distanzierende Nähe, die dem Vogel eigen ist, gibt ihm eine sympathische Würde und verschafft ihm unsere Achtung und Beachtung.

Seit frühester Geschichte ist der Vogel, weil seine Heimat die Luft und die Winde sind, auch Symbol für das Geistige, für das Seelische. Er ist gewissermaßen im Himmel zu Haus, ähnlich wie wir in die gren­zenlosen Räume der Imagination und Phantasie vorstoßen oder uns der Transzendenz zuwenden. Der Vogel verweist auf ein Jenseits. Auch deshalb wird der Vogel von uns gemocht.

So bündeln sich verschiedene Aspekte: Das uns Menschen nicht gegebene Flugvermögen, das Höhe und Entfernungen mit Schnel­ligkeit meistert; Anmut und Schönheit in Gesang und Gestalt, zudem die Balance von Nähe und Distanz. Sie alle machen den Herrscher der Lüfte für uns zum sinnfälligen und so liebenswerten Symbol unserer Sehnsucht nach Freiheit und Ferne, nach Aktivität und Transzendenz.

Geliebter Stein, du verdienst es, persönlich angesprochen zu wer­den. Denn wir müssen dich bewundern, weil du den Keim des Lebens auf dieser Erde in dir trugst.

Aus Sternenstaub geboren, bist du der erste feste Körper bei der Entstehung unseres Erdballs. Als sich nach dem Urknall vor viel­leicht 14 Milliarden Jahren Strahlung und Plasma in den folgenden Jahrmilliarden verdichteten, sind auf unserer Erde zuerst die Ele­mente und mit ihnen die Mineralien entstanden, und von ihnen immer neue Arten in den folgenden Aberjahrmillionen. Das war auch deine Geburtsstunde, denn du bist die Komprimierung von Mineral in kompakter fester Form. Du bildest dich auf unterschied­liche Weise sogar noch heute.

Vom kleinsten Sandkorn, dem Kiesel und dem Edelstein bis zum Felsbrocken und dem mächtigen Gebirge gibt es dich in allen Abmes­sungen. Du formst die Erdkruste, den Erdmantel. So blank bist du sichtbar in den großen Massivgebirgen rund um den Globus, wäh­rend du im Erdinnern noch in flüssiger Form brodelst und uns als zerstörerische Vulkanlava immer wieder heimsuchst. Ab und zu besuchst du uns in deiner kosmosgeschichtlich frühesten Struktur als Meteorit, wenn du leuchtend und berstend die Atmosphäre durchstößt und auf unseren Erdboden krachst. Wie ein Bote der Urzeit kündest du dann vom Anfang des Seins.

Du wirst gestaltet von den Kräften der Erde, sie geben dir Inhalt und Form: Wie ein Geschick bist du das, was du bist, und verweist passiv nur auf dich.

Mit deiner Gestalt drückst du aus: das Festge­fügte und Beharrende; und bist du größer, kommt hinzu noch das Schwere und Lastende. Für all das bist du Symbol.

Du bist ein harter Schweiger. Der Steinmetz erst bringt dich zum Sprechen, wenn er aus dir eine Form herausschlägt oder dir Zeichen einfügt. Dann redest du mit uns. Es sind Stimmen schon aus der Frühzeit der Menschheit bis heute, wenn wir dir als Denkmal, Altar oder Grenzpfahl, als Bauelement, als Skulptur oder sonstigem Kunst­werk begegnen. Wir lieben es, deine Stimme in uns zu vernehmen.

In deinen Mineralien, aus denen du bestehst, ist grundgelegt die gesamte biologische Entwicklung der Erde bis zu den Einzellern, den Pflanzen und den Tieren, schließlich bis hin zu uns Menschen. Dieses mineralische Erbe tragen wir bleibend in uns. Deshalb bedür­fen wir auch der Mineralien in der täglichen Nahrung, manchmal als zusätzliche Gabe zur Gesundung. Doch gelegentlich machen sie uns auch krank, wenn unser Körper mit ihnen nicht angemessen umgeht.

Unsere Leiber werden einmal, beerdigt oder verbrannt, zu Staub verfallen und kehren so in den mineralischen Kreislauf des Wan­dels zurück. Sinken die Mineralien im Laufe geologischer Zeiträume in die Erdkruste ab, werden Druck und Temperatur aus ihnen wie­der neues Gestein formen, welches dann die Tektonik in ebensolchen Zeiträumen wieder nach oben hebt.

Geliebter Stein, das Faszinosum, das du schlicht und natürlich aus­strahlst, ist die Würde deines Alters. Deine hehre Vergangenheit beglaubigt dich. Hunderte von Jahrmillionen vor uns gab es dich schon auf Erden! Können wir uns diese Zeiträume eigentlich vor­stellen ? Nein ! Wir Spätlinge der Erdgeschichte schulden dir Respekt wegen deines Alters, und auch weil du den Keim der Evolution, und damit uns, in dir getragen hast !«

So erscheinen in dieser Skulptur Vogel und Stein als Gegensatz: Der Vogel ist leicht gegenüber dem Stein, der bereits in kleiner Dimension so viel schwerer ist. Auch zeichnet sich der Vogel durch seine Beweglichkeit aus und scheint den Ortswechsel zu lieben, während der Stein von sich aus unbeweglich ist und auf seinem Fleck beharrt. Des weiteren kann der Vogel als Sinnbild für die Transzendenz gesehen werden, also für das Geistige, das Jenseitige stehen. Demgegenüber wäre dem Stein das Prinzip der Immanenz zuzuordnen; er versinnbildlicht die Diesseitigkeit sowie die inne­wohnende Fülle der dinglichen Welt. Auch könnte im passiv be­harrenden Stein die polare Entsprechung für den aktiv agierenden Vogel gesehen werden.

Der Vogel wird durch den Stein im Flug behindert, und anderer­seits erfährt der Stein durch den Vogel eine Beweglichkeit, die ihm natürlicherweise nicht zukommt. Vogel und Stein stehen für die Polarität in uns - eine ironische Zweisamkeit. So wird die wider­sprüchliche Skulptur >Der Vogel mit dem Stein< zu einem Sinnbild für den Menschen, der stets und ständig mit den Gegensätzen des Lebens, mit dem Widerstreit in sich selbst konfrontiert ist.

Die Divergenzen treffen hart aufeinander, sie lassen sich kaum ab­mildern. Sie müssen ertragen werden. Manchmal obsiegt die eine, dann die andere Seite, zeitweise. Manchmal arrangieren wir uns halbwegs mit den Widersprüchen in uns und denen des Lebens. Doch immer bleibt der Wunsch nach Befreiung von jedem Zwiespalt: Das ist die tiefe Sehnsucht unseres Lebens.

Die Sehnsucht begleitet den Menschen ein Leben lang. Im strengen Wortsinn ist sie der diffuse Wunsch, in einen Urzustand zurück­kehren zu wollen: >Ich sehne mich und weiß nicht recht, nach was<, beschreibt Mörike dieses Gefühl, das sich kaum greifen lässt. Denn im Tiefsten spüren wir, dass wir auf dieser Erde nie ganz daheim sind, in diesem Leben nie ganz bei uns sind. Wir empfinden, manchmal nur schwach, den existentiellen Hunger nach Gewissheit. Doch immer werden wir ungesättigt bleiben ! Denn es gibt keine Lebens­gewissheit. Sandern nur, wie im Taumel seit Menschengedenken, eine Dissonanz von hybriden Anmaßungen der >Welt-Erklärer<, die behaupten, das Woher, Wohin und Warum zu kennen und was Gott wolle. Doch kein Mensch weiß es. Alles Hörensagen ist und bleibt Spekulation. Man kennt noch nicht einmal in Gänze sich selbst, seinen Körper, seine eigene Psyche, den anderen schon gar nicht. Und dann will man den Sinn des Seins, die Wahrheit, Gottes Wille erkannt haben ? Welch eine Hybris ! Es adelt uns, wenn wir die unaufhebbaren Vieldeutigkeiten des Lebens bejahend begrüßen.

Als Trost scheint uns die Sehnsucht geschenkt. Sie lockt uns spiele­risch in das reizvoll Unbekannte des Geistes und der Seele. Sie kann uns verbrennen, weil das Ersehnte stets unerfüllbar bleibt: Richtige >Sehnsucht< will Unerreichbares. Deshalb mischen sich ihr Wehmut und Schmerz bei. Aber solange das Sehnsuchtsfeuer nach den ant­wortlosen Fragen in uns brennt, sind wir innerlich nicht tot. Der spielerische Dialog mit uns selbst und dem Darüberhinaus hält uns wach.

Kann Ersehntes in Erfüllung gehen, so ist von >Sehnsucht< eigentlich nicht zu sprechen: Sehnsucht nach einer Reise, einem Wiedersehen, nach einer Liebe. Dies sind vielmehr erfüllbare >Wünsche<.

Der Vogel mit dem Stein

Mit leichten Schwingen fliegst du fort.
Bald bist du hier, bald bist du dort.

Ich schau' dir nach, möcht' folgen dir,
doch nie wird es gelingen mir. -

Ich möchte wie ein Vogel sein !
Doch bin beschwert mit einem Stein.

Mit dieser Last muss fliegen ich,
die Gegensätze lieben sich.

So bleibt die Sehnsucht mir allein.
Bin wie der Vogel mit dem Stein.

Dr. Peter Guckel (2005)

Siegbert Hahn & Dr. Peter Guckel